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BGH v. 11.6.2024 - VI ZR 133/23

Grundsätze der Repräsentantenhaftung sind nicht auf § 111 Satz 1 SGB VII übertragbar

Die zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung sind nicht auf § 111 Satz 1 SGB VII zu übertragen. Die Übertragung der zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung auf § 111 Satz 1 SGB VII überschritte die Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung. Eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII i.S. einer Repräsentantenhaftung widerspräche der Gesetzessystematik.

Der Sachverhalt:
Der Z. ist bei der P-GmbH als Fahrer beschäftigt. Die P-GmbH ist ein Mitgliedsunternehmen der Klägerin. Am 27.6.2017 war der Z. mit einem - bei der Beklagten haftpflichtversicherten - Werttransporter der P. GmbH auf der Autobahn unterwegs. Als ein vor ihm fahrender Sattelzug abbremste, stieß der Werttransporter mit der linken Front gegen das rechte Heck des Sattelzugs. Z. lenkte das Fahrzeug nach rechts auf den Seitenstreifen, von dem aus es auf das angrenzende Feld rollte. Bei dem Unfall wurde Z. verletzt.

Der Werttransporter hatte nach einem Bericht des TÜV Süd vom 23.5.2017 eine Reihe von Mängeln. Der Fuhrparkleiter H. der P. GmbH hatte bereits am 8.5.2017 per E-Mail dem Leiter des Flottenmanagements F. mitgeteilt, dass der Werttransporter erhebliche Mängel aufweise und die Gefahr bestehe, dass etwas passieren könne.

Auf den außergerichtlich geforderten Betrag von 66.975 € zahlte die Beklagte 33.566 €. Mit der Klage begehrte die Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung u.a. die Zahlung von weiteren 33.429 €. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat ihr vollumfänglich stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Gründe:
Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Anspruch aus § 110 Abs. 1 Satz 1, § 111 Satz 1 SGB VII i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 VVG zu.

Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die P-GmbH der Klägerin haftet, weil ihr Fuhrparkleiter H. den Versicherungsfall, bei dem Z. verletzt wurde, grob fahrlässig herbeigeführt hatte (§ 110 Abs. 1 Satz 1, § 111 Satz 1 SGB VII). Der Beurteilung des OLG, dass eine juristische Person nach §§ 110, 111 SGB VII vergleichbar mit der zu § 31 BGB entwickelten Repräsentantenhaftung auch für sonstige Personen haftet, denen sie bedeutsame wesensmäßige Funktionen zur eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen hat und die in Ausführung der ihnen zustehenden Verrichtung den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben, folgt der Senat nicht (offen insoweit BGH, Urt. v. 9.12.2021 - VII ZR 170/19, VersR 2022, 512).

Nach teilweise vertretener Auffassung soll die Haftung gem. § 111 Satz 1 SGB VII den §§ 31, 89, 278 BGB vergleichbar sein. Dieser Auffassung schließt sich der Senat nicht an. Die Übertragung der zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung auf § 111 Satz 1 SGB VII überschritte die Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war.

Im Vergleich zu § 31 BGB ist der Wortlaut des § 111 Satz 1 SGB VII enger. Er erfasst neben dem Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs nur Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen. Insbesondere enthält § 111

Satz 1 SGB VII im Gegensatz zu § 31 BGB ("verfassungsmäßig berufene Vertreter") keinen Oberbegriff. Aus der Gesetzgebungshistorie ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auch bei § 111 Satz 1 SGB VII von einer Repräsentantenhaftung ausgeht. Demgegenüber hat die Repräsentantenhaftung bei Auslegung und Anwendung des § 31 BGB eine lange Rechtsprechungsgeschichte. Im Übrigen gibt es keinen allgemein geltenden Grundsatz der Repräsentantenhaftung. (vgl. etwa in versicherungsrechtlichen Zusammenhängen BGH, Beschl. v. 13.2.2024 - 4 StR 293/23). Eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII i.S. einer Repräsentantenhaftung widerspräche der Gesetzessystematik.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.07.2024 12:59
Quelle: BGH online

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