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Mitbestimmungssicherung beim Formwechsel in die SE - Was bleibt von der Privatautonomie? (Habersack, ZIP 2024, 537)

Mit Urteil vom 18.10.2022 hat die Große Kammer des EuGH entschieden, dass die durch § 7 Abs. 2, § 16 Abs. 2 MitbestG begründete Sitzgarantie der Gewerkschaften zu den nach Art. 4 Abs. 4 SE-RL, § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG unverzichtbaren Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung gehört. Der Beitrag würdigt die Entscheidung und fragt nach ihren Folgen für andere Bausteine des deutschen Mitbestimmungsrechts, namentlich die Sitzgarantie für die leitenden Angestellten (§ 15 Abs. 1 Satz 2 MitbestG), die Vorgaben zur Größe des mitbestimmten Aufsichtsrats (§ 7 Abs. 1 MitbestG), das Verfahren zur Wahl der Arbeitnehmervertreter (§§ 9-18 MitbestG), die Bestimmungen zur inneren Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrats (§§ 25-32 MitbestG) sowie die Pflicht zur Bestellung eines Arbeitsdirektors (§ 33 MitbestG).

I. Einführung
II. Kritische Bemerkungen zum EuGH-Urteil

1. Schutz aller Komponenten der Mitbestimmung
2. Maßgeblichkeit des mitgliedstaatlichen Rechts
3. Schutz aller vertretenen Gewerkschaften
4. Zwischenfazit
III. Weitere „prägende Elemente“ der Mitbestimmung?
1. Größe des Aufsichtsrats
2. Wahlverfahren
3. Sitzgarantie für leitende Angestellte
4. Sonstiges
IV. Wesentliche Ergebnisse


I. Einführung

Der Streit über die Wirksamkeit der im Zusammenhang mit dem Formwechsel der SAP AG in eine SE getroffenen Beteiligungsvereinbarung hat der Großen Kammer des EuGH auf Vorlage des BAG Gelegenheit gegeben, sich zu den Grenzen der Vereinbarungsautonomie zu positionieren. Konkret ging es um die Frage, ob die Garantie für die nach § 7 Abs. 2 MitbestG
obligatorischen Gewerkschaftssitze – genauer: das in § 16 Abs. 2 MitbestG vorgesehene Recht der Gewerkschaften, Kandidaten für die Wahl dieser Gewerkschaftsvertreter zu benennen, über die sodann in einem gesonderten Wahlgang zu entscheiden ist – zu den nach Art. 4 Abs. 4 SE-RL, § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG geschützten „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ gehört und damit in zumindest gleichem Ausmaß auch nach Umwandlung gewährleistet sein muss. Im Einklang mit dem Vorlagebeschluss, aber entgegen der bislang überwiegenden Ansicht, wonach § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG nur den Anteil der Arbeitnehmervertreter, nicht aber deren Zuordnung schützt, hat der EuGH die Frage vollumfänglich bejaht und damit die Vereinbarungsautonomie im Falle der Gründung einer SE im Wege des Formwechsels nicht unerheblich eingeschränkt.

Die Entscheidung ist bereits vielfach besprochen worden. Dabei ist freilich der Frage, ob und, wenn ja, inwieweit die EuGH-Entscheidung auf sonstige Bestimmungen des deutschen Mitbestimmungsrechts zu erstrecken ist, diese also gleichfalls „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ bilden, eher geringe Aufmerksamkeit gewidmet worden. Diese Frage soll deshalb im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen. Zu ihrer Klärung müssen freilich die tragenden Erwägungen und konzeptionellen Grundlagen des EuGH-Entscheids skizziert und gewürdigt werden.

II. Kritische Bemerkungen zum EuGH-Urteil

1. Schutz aller Komponenten der Mitbestimmung

Der EuGH gelangt zur Einbeziehung der Sitzgarantie für die Gewerksachaften, indem er die nach Art. 4 Abs. 4 SE-RL unabdingbaren „Komponenten“ nicht nur auf die drei Formen der Arbeitnehmerbeteiligung i.S.v. Art. 2 lit. h SE-RL – nämlich Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung –, sondern zusätzlich auch auf die „Komponenten“ dieser Beteiligungsformen selbst und damit insbesondere auch auf „alle Komponenten“ der in Art. 2 lit. k SE-RL legaldefinierten Mitbestimmung bezieht. Obgleich der EuGH zur Begründung auch auf den „Kontext“, in den sich Art. 4 Abs. 4 SE-RL einfügt, verweist, übergeht er geflissentlich, dass Art. 3 Abs. 4 Unterabs. 2 SE-RL – ebenso wie übrigens Art. 86l Abs. 2 lit. a, Art. 133 Abs. 2 lit. a, Art. 160l Abs. 2 lit. a RL 2017/1132 – eine Minderung der Mitbestimmungsrechte explizit nur in einem geringeren Anteil der Arbeitnehmervertreter erblickt.

Die teleologische Auslegung erschöpft sich gar im Wesentlichen in dem Hinweis auf den 18. Erwgr. der SE-RL, der die „Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer“ als fundamentalen Grundsatz und erklärtes Ziel der Richtlinie bezeichnet. Spätestens an dieser Stelle hätte der EuGH freilich erkennen und einräumen müssen, dass seine Auslegung im Ergebnis weniger die Rechte der Arbeitnehmer als die Rechte der (von der SE-RL allein in ihrem Art. 3 Abs. 2 adressierten) Gewerkschaften schützt und sich damit von der Zielsetzung der Richtlinie entfernt, ja diese sogar verkehrt, hat doch der getrennte Wahlgang infolge der mit ihm verbundenen Sitzgarantie im Ergebnis eine Einschränkung des Wahlrechts der Arbeitnehmer zur Folge.

2. Maßgeblichkeit des mitgliedstaatlichen Rechts
Soweit Art. 4 Abs. 4 SE-RL betont, dass in Bezug auf die „Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ zumindest das gleiche Ausmaß zu gewährleisten ist, „das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll“, erblickt der EuGH darin – dies ist eine zweite gewichtige Weichenstellung – einen Verweis „auf die nationalen Rechtsvorschriften und/oder die Gepflogenheiten im Mitgliedstaat des Sitzes dieser Gesellschaft“. Deshalb sei sicherzustellen, dass das in der Vereinbarung vorgesehene Ausmaß der Arbeitnehmerbeteiligung „in Bezug auf alle Komponenten dieser Beteiligung dem in diesen Rechtsvorschriften festgelegten Ausmaß zumindest gleichkommt.“ Daher sei für die Beurteilung, ob die streitgegenständliche Beteiligungsvereinbarung eine mindestens gleichwertige Beteiligung der Arbeitnehmer gewährleistet, das deutsche Recht maßgebend, wie es für die Gesellschaft vor ihrer Umwandlung in eine SE galt, und damit insbesondere § 7 Abs. 2 i.V.m. § 16 Abs. 2 MitbestG. Im Verlauf der Entscheidungsgründe spricht der EuGH von den „Komponenten, die die fragliche Art der Mitbestimmung kennzeichnen“, und – wie zuvor das BAG – von den „prägenden Elementen der Mitbestimmung“, ohne allerdings mit hinreichender Klarheit zu verlautbaren, ob mit dieser Formel eine sachliche Beschränkung des Bestandsschutzes verbunden sein soll, ob es also auch Elemente der Mitbestimmung gibt, die diese nicht „kennzeichnen“ oder „prägen“ und deshalb nicht unter Art. 4 Abs. 4 SE-RL fallen. Tatsächlich dürfte davon auszugehen sein, dass...

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.03.2024 09:30
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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