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Wiederzulassung von Mehrstimmrechten - zurück in die Zukunft? (Gebhard/Herzog, ZIP 2023, 1161)

Mehrstimmrechte sind zurück. Mit dem Referentenentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz hat die Bundesregierung eine Vielzahl an Maßnahmen vorgelegt, um den Kapitalmarktstandort zu stärken und Börsengänge attraktiver zu machen – darunter die Wiedereinführung von Mehrstimmrechten in § 134 Abs. 2 AktG‑E. Der Beitrag soll die Regelungen des Entwurfs vorstellen und bewerten sowie zu Argumenten und Regelungsvorschlägen der bisherigen Debatte Stellung beziehen. Die Wiedereinführung von Mehrstimmrechten für nicht börsennotierte Gesellschaften ist dabei umfänglich zu begrüßen. Trotz der bleibenden Skepsis gegenüber Mehrstimmrechten zeigt sich auch für börsennotierte Gesellschaften ein eher positives Bild: Dem Gesetzgeber ist es überwiegend gelungen, die erheblichen Gefahren von Mehrstimmrechten durch gesetzliche Schutzmechanismen adäquat einzudämmen.

I. Einleitung
II. Grundsätzliche Ablehnung für börsennotierte Gesellschaften

1. Mehrstimmrechte als Schwächung der Eigentümerkontrolle
2. Mehrstimmrechte als Instrument zur Abwehr von Übernahmen
3. Mehrstimmrechte als Vorteil für den Kapitalmarktstandort?
4. Mehrstimmrechte als Widerspruch zur europäischen Regulierungsstrategie
5. Mehrstimmrechte als Ergebnis von Marktprozessen?
III. Mehrstimmrechte in nicht börsennotierten Gesellschaften nach dem ZuFinG
1. Stimmrechtsbeschränkung
2. Fehlen weiterer Schutzmechanismen
3. Bewertung
IV. Schutzmechanismen in börsennotierten Gesellschaften nach dem RefE
1. Personelle Bindung der Mehrstimmrechte (transfer-based sunset clause)
a) Hintergrund und Praxis der transfer-based sunset clause
b) Rechtliche Einordnung
c) Kapitalmarktrechtliche Implikationen
2. Zeitliche Bindung der Mehrstimmrechte (time-based sunset clause)
V. Weitere Gestaltungsmöglichkeiten für Mehrstimmrechte
1. Verwässerungsklausel (dilution-based sunset clause)
2. Divestitionsklausel (divestment-based sunset clause)
3. Kopplung an Beschäftigungsverhältnis (separation-based sunset clause)
4. Inhaltliche Beschränkung
VI. Ergebnisse


I. Einleitung

Die Zeit um die Jahrtausendwende kann als Höhepunkt des „One Share, One Vote“-Grundsatzes im Aktienrecht betrachtet werden. Einerseits erklärte das KonTraG im Jahre 1998 die Einführung von Mehrstimmrechten in § 12 Abs. 2 AktG vollständig für unzulässig und beschränkte Höchststimmrechte auf nicht börsennotierte Gesellschaften. Andererseits zeigte die Golden-Share-Rechtsprechung des EuGH eine deutliche Skepsis gegenüber Abweichungen von Stimmrecht und Kapitalbeteiligung in Aktiengesellschaften auf.

Der internationale Vergleich zeigt in den letzten Jahren, dass sich das Rad in dieser Hinsicht wieder zurückgedreht hat: Verschiedene Länder haben sich infolge von Abwanderungen prominenter Unternehmen zugunsten ausländischer Rechtsformen bzw. Börsenstandorte für eine Zulassung von Mehrstimmrechten auch für börsennotierte Gesellschaften entschieden. Rund die Hälfte der Mitgliedsstaaten der EU sowie das Vereinigte Königreich erlauben inzwischen Mehrstimmrechte in Aktiengesellschaften. In den USA sind Mehrstimmrechte insbesondere in Technologieunternehmen zunehmend verbreitet.

Dieser gewachsenen Offenheit gegenüber Mehrstimmrechten schließt sich der deutsche Gesetzgeber nach der Ankündigung im Koalitionsvertrag Ende 2021 5 und dem Eckpunktepapier aus dem Sommer 2022 nun mit dem Anfang April erschienenen Referentenentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz (RefE ZuFinG) an. Der Gesetzgeber will unter Aufhebung des bisherigen Verbots von Mehrstimmrechten (§ 12 Abs. 2 AktG) künftig Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften gem. § 134 Abs. 2 AktG‑E unter gewissen Einschränkungen erlauben, während in nicht börsennotierten Gesellschaften eine umfängliche Liberalisierung unter Abkehr vom strengen „One Share, One Vote“-Grundsatz erfolgt. Das Vorhaben ist im Lichte des parallelen Gesetzgebungsverfahrens zum EU Listing Act zu sehen, der die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Kapitalmärkte stärken und zur vereinfachten Unternehmensfinanzierung über die Börse beitragen soll. Teil dessen ist der Ende 2022 veröffentlichte Entwurf einer Richtlinie, die die Zulassung von Gesellschaften mit Mehrstimmrechtsstrukturen an Wachstumsmärkten sicherstellen soll.

Dieser Beitrag soll zunächst überblicksweise die erheblichen rechtspolitischen und ökonomischen Bedenken gegenüber Mehrstimmrechten in börsennotierten Gesellschaften in Erinnerung rufen und auf einige Gegenargumente in der aktuellen Debatte erwidern (dazu II.). Trotz dieser Skepsis, die bereits in einem früheren Beitrag der Verfasser deutlich gemacht worden ist, wird der hiesige Beitrag darüber hinaus die konkrete Ausgestaltung von Mehrstimmrechten im RefE ZuFinG für nicht börsennotierte Gesellschaften (dazu III.) sowie börsennotierte Gesellschaften (dazu IV.) unter Berücksichtigung der jeweiligen Schutzmechanismen analysieren. Anschließend werden potentielle weitere Ausgestaltungen für börsennotierte Gesellschaften vorgestellt (dazu V.), bevor die Ergebnisse zusammengefasst werden (dazu VI.).

II. Grundsätzliche Ablehnung für börsennotierte Gesellschaften

1. Mehrstimmrechte als Schwächung der Eigentümerkontrolle

Dadurch, dass Mehrstimmrechte die Entscheidungsmacht eines Aktionärs von der Höhe seiner finanziellen Beteiligung entkoppeln, können sie im Vergleich zu einem strengen „One Share, One Vote“-Prinzip Anreize zu opportunistischem Verhalten setzen, indem der Mehrstimmrechtsaktionär die finanziellen Auswirkungen seiner Entscheidung nicht äquivalent zu tragen hat. Dieser fundamentale ökonomische Einwand gegen Mehrstimmrechte gilt auch heute noch; die hiermit verbundene Schwächung der Eigentümerkontrolle konzediert der Entwurf selbst. Dass diese Nachteile durch eine Stärkung der langfristigen Unternehmensorientierung (in Abgrenzung zum Phänomen des sog. short-termism) ausgeglichen werden, erscheint zweifelhaft.

Nicht zuletzt zeugen die Stellungnahmen der Fachverbände zum parallel laufenden Konsultationsverfahren zum EU Listing Act von großen Bedenken der Marktteilnehmer gegenüber Mehrstimmrechten – insbesondere auf Investorenseite. Auch in den USA als „Stammland“ der Mehrstimmrechte besteht auf Seiten institutioneller Investoren breite Ablehnung, wobei die Forderungen von verpflichtenden Beschränkungen der Mehrstimmrechte bis hin zu einem vollständigen Verbot des Listings reichen.

2. Mehrstimmrechte als Instrument zur Abwehr von Übernahmen
Mehrstimmrechte waren seit der Weimarer Republik bis in die jüngere Vergangenheit zuvorderst ein Mittel zur Abwehr feindlicher Übernahmen. Der Kontrollerwerb durch einen Übernahmeinteressenten kann durch Mehrstimmrechte erheblich erschwert werden. Die Entkopplung von Einfluss und Kapitalbeteiligung kann dafür sorgen, dass...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.06.2023 16:06
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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