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BGH: Entschädigungsanspruch für überlange Verfahren

Der BGH hat in seiner Entscheidung (BGH, Urt. v. 15.12.2022 – III ZR 192/21) Wegweisendes zu den verschiedenen Rechtsfragen ausgeführt, die sich bei überlangen Verfahren – verursacht durch die Richterbank – im Rahmen des Entschädigungsanspruchs ergeben, der nach § 198 GVG die dadurch entstandenen Nachteile des Betroffenen ausgleichen soll. In der Sache ging es dabei um Schadensersatzansprüche, welche Kapitalanleger gegen die Verantwortlichen der „Göttinger Gruppe“ führten. Wegen Betrugs, Kapitalanlagebetrugs und sittenwidriger Schädigung waren anfangs 4.000 Klage anhängig gemacht worden. Die Kläger machten jeweils geltend, ihre gesamte Einlage verloren zu haben. Die Masse dieser Prozesse wurde dann – Pilotverfahren waren auf die Schiene gesetzt worden – auf zwei Kammern des LG Göttingen aufgeteilt. Die hier interessierende Klage wurde im Dezember 2011 erhoben. In den Pilotverfahren wurden danach höchst umfangreiche Gutachten erstellt; Beweisbeschlüsse ergingen. Im Oktober 2017 und im Januar 2019 wurden Verzögerungsrügen in dem Ausgangsverfahren eingereicht.

In seiner Entschädigungsklage macht der Kläger geltend, das Ausgangsverfahren sei nicht in angemessener Frist – Gesamtverfahrensdauer zu diesem Zeitpunkt: sieben Jahre und elf Monate – abgeschlossen worden, die Verfahrensdauer sei unangemessen lang. Bemängelt wurde insbesondere, das LG hätte die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten sorgfältig auswerten müssen, dann wäre die Einschaltung eines Sachverständigen nicht erforderlich gewesen. Das OLG Braunschweig hatte das Land Niedersachsen als beklagte Partei (unter Abweisung der Klage im Übrigen) zu einer Entschädigungszahlung von 6.426,61 € verurteilt. Beide Parteien hatten darauf Revision eingelegt; der Kläger verfolgt sein Ziel weiter: Er beansprucht eine Entschädigung von 11.550 €.

Die Leitsätze des BGH-Urteils lauten nunmehr wie folgt (unter Fortlassung der Referenzen auf BGH-Urteile):

„1. Die Verfahrensführung des Richters wird im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG – entsprechend den im Amtshaftungsprozess entwickelten Grundsätzen – nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Für ‚Musterverfahren‘ oder ‚Pilotverfahren‘ gelten insoweit keine Besonderheiten.

2. Im Entschädigungsprozess findet grundsätzlich keine Überprüfung der rechtlichen Überlegungen, die der Richter seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat, auf ihre sachliche Richtigkeit statt, da hier der Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit betroffen ist.

3. Der Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 Satz 3, 4 GVG ist zeitbezogen geltend zu machen, wodurch der Streitgegenstand des Verfahrens festgelegt wird. Macht der Entschädigungskläger für bestimmte Zeiträume zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch geltend, so ist sein Antrag insoweit abzuweisen und kann gem. § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden, für die er nach Auffassung des Gerichts eine geringere Entschädigung fordert, als ihm zusteht.

4. Maßgebend für die Höhe einer vom gesetzlichen Regelsatz (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) abweichenden Entschädigung sind gem. § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Umstände des Einzelfalls. Auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für die aus der überlangen Verfahrensdauer erwachsenen immateriellen Nachteile festzusetzen, die sich aus dem höheren bzw. niedrigeren Entschädigungssatz nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG, der sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt, und der festgestellten Verzögerungsdauer ergibt.“

Dass der BGH im Ergebnis dem Kläger nur eine Entschädigung von 1.200 € zugestanden hat, beruht nach Ansicht des BGH auf einer fehlerhaften Gesamtwürdigung der Umstände (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG).



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 01.02.2023 11:36

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