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Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen - Lehren aus dem Wirecard-Skandal (Florstedt, ZIP 2023, 113)

Zu optimistische und einseitige Anlageempfehlungen geben in Zeiten von Finanzkrisen und -skandalen immer wieder Anlass zu rechtspolitischer Kritik an den kapitalmarktrechtlichen Vorgaben. Auch der Fall der Wirecard AG legt es nahe, über die Rolle und das Recht der Finanzanalysen noch einmal gründlich nachzudenken: die trotz aller Warnzeichen fortgesetzt positiven Empfehlungen für Kapitalmarktteilnehmer waren ein wichtiger Teil eines Finanzsystems, das beim Zusammenbruch der Wirecard AG insgesamt versagt hat. Der Beitrag geht darauf ein und entwickelt einige Vorschläge, wie das Recht auf die Erfahrungen mit einem der bislang größten Unternehmenszusammenbrüche in Deutschland reagieren sollte.

I. Der aktuelle Anlass
II. Die Rolle der Finanzanalysten und Finanzjournalisten im Fall der Wirecard AG

1. Investigativer Journalismus: House of Wirecard
2. Die Rolle der Shortseller
3. Die optimistische Einschätzung der Analystenmehrheit
III. Der Pflichtenkanon bei der Erstellung von Finanzanalysen de lege lata
1. Anforderungen an die Finanzanalyse (Art. 20 MAR)
a) Verhaltenspflichten in Bezug auf den Inhalt der Finanzanalyse
b) Offenlegungspflichten, insbesondere Anforderungen an die Unabhängigkeit
2. Allgemeine Organisationsvorgaben für Wertpapierdienstleistungsunternehmen
3. Das Marktmissbrauchsrecht
IV. Ausgewählte Folgerungen zum Reformbedarf und zu Reformaussichten
1. Die fehlende Tatbestandsklarheit des EU-Rechts
a) Problemaufriss
b) Normkonkretisierung mithilfe der nationalen Vorläuferregeln?
c) Fazit: gebotene Überarbeitung von MAR und MiFID II
2. Know your product: für mehr materiell-rechtliche Verhaltenspflichten bei qualifizierten Gerüchten
a) Grundsatz
b) Systembezug zum Recht der sonstigen „Informationsintermediäre“
c) Zum Inhalt: Nachforschungs- oder bloße Warnpflichten?
d) Wann ist ein Gerücht genügend qualifiziert?
e) Sonderproblem: sind anonyme Hinweise stets unbeachtlich?
3. Offenlegung von Interessenkonflikten – aber welche?
a) Empfehlungen in Kundenverhältnissen
b) Empfehlungen mit Werbecharakter
c) Exkurs: Orientierungsfunktion staatlicher Beurteilungen
4. Darstellung von Zusammenfassungen
V. Ausblick


I. Der aktuelle Anlass

Die rechtspolitische Aufarbeitung des Wirecard-Skandals hat mit dem FISG eine erste Stufe, aber keinen Abschluss erreicht. Neuerdings tritt ein breites Interesse an den bisher vernachlässigten Themenbereichen auf, dazu gehört die Ahnungslosigkeit oder Unbekümmertheit einer auffälligen Mehrheit von Finanzanalysten in Bezug auf den jahrelang erhobenen Vorwurf der betrügerischen Bilanzierung. Ließ man sich von einer bündigen Berieselung durch den Wirecard-Vorstand ablenken oder drücken sich hier tiefere, vom Rechtssystem nicht bewältigte Problemgründe aus? Bereits nach den großen Bilanzskandalen bei Enron, WorldCom und anderen erhielten die bis kurz vor dem Abschwung mehrheitlichen Kaufempfehlungen um die Jahrtausendwende besondere Aufmerksamkeit, die als systematisch zu optimistisch und oft unsachlich-motiviert kritisiert wurden. Der seither im deutschen und europäischen Recht adaptierte Lösungsansatz auf ein Mindestmaß gedrungen: Interessenkonflikte in Banken und Analysehäusern führen zu letztlich nicht objektiven Urteilen; diese Konflikte sollen durch formale Organisations- und Offenlegungsregime unterbunden werden.

Thema des Beitrags ist der heutige Rechtsrahmen für solche Finanzanalysen, der trotz zahlreicher, äußerlich gesehen erheblicher Änderungen seit § 34b WpHG 2004 konzeptionell und inhaltlich weithin unangetastet blieb. Für dessen Beurteilung wird sich eine Befassung mit den Geschehnissen bei der Wirecard AG aus einer Reihe von Gründen anbieten. Dazu zu rechnen sind die schlicht falschen und unreflektierten Kaufempfehlungen trotz zahlloser Hinweise im Markt über einen mehrjährigen Zeitraum. Eine Besonderheit des Wirecard-Falls ist zudem das symbiotische Vorgehen von Presse und kritischen Investoren, die Rolle der Zeitungsberichterstattung sollte deswegen in die Betrachtung einbezogen werden. Das erneute Nachdenken über die kapitalmarktrechtlichen Pflichten von Analysten lohnt schließlich vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der MAR, welche es durchaus zuließe, auch den Rechtsrahmen für Finanzanalysen noch einmal nachzubessern.

II. Die Rolle der Finanzanalysten und Finanzjournalisten im Fall der Wirecard AG
Der Wert von Finanzanalysen für die Prävention und Aufklärung von Bilanzbetrug steht heute in theoretischer und empirischer Hinsicht außer Zweifel. Theoretisch gesehen übernehmen Finanzanalysten ähnlich wie Abschlussprüfer oder Ratingagenturen die Aufgabe, das Informationsgefälle zwischen Emittenten und Anlegern abzubauen: in dem Urteil „kaufen“, „halten“ oder „verkaufen“ ist idealerweise eine Beurteilungshilfe zu Bilanzangaben und auch zu kursierenden Betrugsvorwürfen mitenthalten. Empirisch gesehen werden die meisten Bilanz- und ähnlichen Betrugsfälle nicht etwa durch die Aufsicht oder die Wirtschaftsprüfung aufgedeckt, vielmehr sind die Hinweise durch Whistleblower, spezialisierte Short-Seller und Analysten von annähernd gleichem Gewicht. Die Einbeziehung der Rolle dieser Marktakteure in die Aufarbeitung des Wirecard-Skandals liegt deswegen auf der Hand, steht hingegen weithin aus.

1. Investigativer Journalismus: House of Wirecard
Aufklärende Berichte von Rechtsbrüchen und Bilanzfälschungen gingen der Insolvenz der Wirecard AG im Jahr 2020 lange voraus. Bereits im Jahr 2008 wurde die Konzernrechnungslegung 2007 als unvollständig und irreführend, die Ertragslage der Bankensparte als intransparent beanstandet; zudem würden Erträge aus Online-Wettgeschäften verschleiert. Analoge Äußerungen hat es auch in den Folgejahren gegeben, der Zusammenbruch des bilanziellen „Kartenhauses“ wird heute auf eine Artikelserie in der Financial Times seit 2015 zurückgeführt. Auch andere Zeitschriften berichteten relativ früh kritisch, ein Großteil der Finanzpresse hat dagegen die positive Grundhaltung der Analysten und Behörden übernommen, andere wechselten erst vergleichsweise spät über zu einer skeptischen Berichterstattung. Die in der Financial Times veröffentlichten Vorwürfe waren wegen der (gezielt herbeigeführten) Komplexität der Sachverhalte (Verlagerungen ins Ausland; reger Gebrauch von Scheinfirmen und Drittpartnern) für die damit befassten Finanzanalysten nicht stets leicht nachzuvollziehen oder zu verifizieren; aber es gab durchaus zahlreiche sehr eingängige, einfache Warnhinweise. Die Reihe beginnt im Jahr 2015 mit einem Hinweis auf eine Erklärungslücke in der Bilanz zu einem Betrag von 250 Mio. € und einem bemerkenswerten Kauf eines indischen Zahlungsdienstleisters für 340 Mio. €, der im Jahr zuvor nur mit 46 Mio. € bewertet worden war. Dass dies ein paradigmengleiches Lehrbuchbeispiel einer related party transaction ist (ein tunneling durch Manager), gilt noch nicht als belegt, wird aber oft behauptet. Die Hinterleute der Verkäufer waren auch in Abschluss- und Sonderprüfung nicht eindeutig zu ermitteln, ob der Kaufpreis trotz der Wertsteigerung angemessen war, ließ sich aus einer Fernsicht vielleicht nicht so eindeutig sagen. Sehr viel einfacher nachzuvollziehen war beispielsweise die Entlarvung der Geschäfte mit „Al-Alam“, die mit einem Umsatz von 265 Mio. € verbucht waren, der sich als mehr oder weniger erfunden herausstellte: hier konnte schon 2016 ermittelt werden, dass die große Mehrheit der 34 angeblichen Hauptkunden entweder nicht aktiv oder nicht auffindbar war; angebliche Kunden hatten gegenüber der Financial Times behauptet, den Namen Wirecard noch nie gehört zu haben.

Viel beachtet wurde auch die Besprechung eines „Zatarra“-Berichts von Shortsellern, der den Verdacht der Geldwäsche, Dokumentenfälschung und des Round Trippings äußerte (dazu noch sogleich, unter 2). Zahlreiche Einzelpunkte wurden in der Folge von den Reportern oftmals mithilfe von Hinweisgebern aufgedeckt, es genügt hier, einen weiteren Auszug aus der Berichterstattung im Jahr 2019 anzudeuten: Es wurden Ergebnisse einer der Presse zugespielten Präsentation „Project Tiger“ veröffentlicht, die graphisch anschaulich machte, wie rund 37 Mio. € in sieben komplexen, kreisläufigen Geschäften zwischen Tochtergesellschaften und externen Unternehmen hin- und herbewegt wurden. Die Kreisgeschäfte sollten die Hongkonger Währungsbehörde über regen Umsatz im asiatischen Raum täuschen; bezweckt wurde damit offenbar, dass man der Wirecard AG erlaubte, Prepaid-Bankkarten in China auszugeben.

Die Vorwürfe führten im Oktober auf Druck der Investoren dazu, dass eine „Sonderuntersuchung“ (d.h. eine Prüfung ungeachtet der strengen Anforderungen von § 258 AktG) durch KPMG in Auftrag gegeben wurde, die am 27.4.2020 u.a. festhielt, dass zahlreiche Buchungen mangels Unterlagen und originaler Belege nicht bestätigt werden konnten.

2. Die Rolle der Shortseller
Die Wirecard AG gab vielfach Anlass zu hochspekulativen Anlagen. Sie zog auch die Aufmerksamkeit professioneller Leerverkäufer auf sich. Bereits im Jahr 2008 hat ein Vorstandsmitglied der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. (SdK) angebliche Bilanzfehler öffentlich gemacht und per Leerverkäufen auf einen Kursverfall spekuliert. Hier braucht nur der im Februar 2016 erschienene Zatarra-Report von Fraser Perring und Matthew Earl genannt werden. Inhaltlich wies der Bericht bereits richtig auf den Verstoß gegen Geldwäschebestimmungen und Luftbuchungen im Bereich des Treuhandvermögens hin, andere Vorwürfe, etwa Rechtsverstöße beim Online-Glücksspiel, sind wohl noch nicht bestätigt; der Bericht gilt in der Literatur (auch deswegen) teilweise als inhaltlich unrichtig. Er blieb zudem ohne Angabe eines Datums und war anonym verfasst, die Autoren gaben an, die Verfolgung durch die Emittentin gefürchtet zu haben und berichteten von...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.01.2023 09:56
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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