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EuGH: Bedeutsame Anerkennung der anwaltlichen Schweigepflicht

In einem zwischen der flämischen Anwaltskammer (u.a.) gegen die flämische Regierung angestrengten Rechtsstreit hatte der EuGH, Urt. v. 8.12.2022 – C-694/20 – Orde van Vlaamse Balies, die Frage nach der Gültigkeit einer gesetzlichen Regelung zu beurteilen, welche sich auf die RL 2011/16/EU in der Fassung der RL 2018/822/EU bezog. In dieser ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Staaten und der Informationsaustausch geregelt, die sich auf die Besteuerung meldepflichtiger grenzüberschreitender Gestaltungen bezieht.

Der rechtspolitische Hintergrund wird sehr einprägsam durch den Erwägungsgrund Nr. 2 der RL 2018/822/EU beleuchtet: „Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. Die Tatsache, dass Steuerbehörden nicht auf eine gemeldete Gestaltung reagieren, sollte jedoch nicht die Anerkennung der Gültigkeit oder der steuerlichen Behandlung dieser Gestaltung implizieren.“

Der durch diese Richtlinie angestrebte Austausch relevanter Informationen betreffend grenzüberschreitende Steuergestaltungen verpflichtet sog. Intermediäre zu Meldungen. Deren Funktion ist in Art. 1 Nr. 22 dieser Richtlinie definiert. Danach ist „‘intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet“. Zwangsläufig erstreckt sich dieser Begriff auch auf die beratende Tätigkeit von Anwälten, zumal nicht wenige von ihnen auf internationale „Steuergestaltung“ hoch spezialisiert sind.

Mit ihrer vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof erhobenen Klage wandten sich die Kläger gegen die Gültigkeit eines die Richtlinie umsetzenden belgischen Dekrets, wonach „dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt auferlegt wird und wonach dieser, wenn er an das Berufsgeheimnis gebunden ist, die anderen betroffenen Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten hat, dass er seiner Meldepflicht nicht nachkommen kann“. Darin sahen die Kläger das nicht von der Hand zu weisende Risiko, dass auf diese Weise ihre berufliche Schweigepflicht verletzt werde. Denn der Anwalt ist ja danach gesetzlich gehalten, einen anderen „Intermediär“ über die ihm bekannt gewordenen Tatsachen unterrichten, der aber nicht sein Mandant ist.

Ohne allzu großes Zögern stellte der Gerichtshof fest, dass die Erfüllung dieser Informationspflichten „zwangsläufig die Folge hat, dass diese anderen Intermediäre von der Identität des unterrichtenden Rechtsanwalt-Intermediärs, von dessen Einschätzung, dass die in Rede stehende Gestaltung meldepflichtig ist, und von der Tatsache, dass er zu diesem Thema konsultiert wird, Kenntnis erlangen“ (Rz. 29). Das ist die Bestätigung, dass der Anwalt seine Verschwiegenheitspflicht (kraft Vorgaben der RL 2018/882/EU) verletzt. Der EuGH gelangt daher folgerichtig unter Bezugnahme auf Art. 7 EuGRC (Achtung der Privatsphäre, einschließlich der Kommunikation) zu dem Ergebnis, dass Art. 8ab als die  tragende Bestimmung der RL 2018/882/EU „ungültig ist, soweit ihre Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt … die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 … obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist“.

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.01.2023 13:00
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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