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Aktuell in der ZIP

Das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen (Lochner/Keller, ZIP 2022, 1997)

Die virtuelle Hauptversammlung der Aktiengesellschaft ist mit Wirkung zum 27.7.2022 nun erstmals im AktG geregelt. Das Gesetzgebungsverfahren wurde durch eine rege Diskussion in der Literatur begleitet, bei der es im Kern um die Frage ging, ob die virtuelle Hauptversammlung nach dem Vorbild der Corona-HV oder nach dem der Präsenzversammlung gestaltet werden sollte. Ziel des Beitrags ist es, dem Leser einen Überblick über die Neuregelung zu verschaffen, diese einer kritischen Würdigung zu unterziehen und schließlich praxisrelevante Aspekte und Lösungsansätze herauszuarbeiten.


I. Einleitung

II. Grundlagen

III. Technische Vorgaben für eine virtuelle HV

IV. Vorfeld der virtuellen Hauptversammlung

1. Einberufung

2. Zwingende Vorverlagerungen

a) Gegenanträge und Wahlvorschläge

b) Stellungnahmerecht

3. Optionale Vorverlagerungen

a) Auskunftsrecht – Vorverlagerung des Fragerechts

b) Veröffentlichung des Vorstandsberichts

V. Ablauf der virtuellen Hauptversammlung

1. Nachbildung der Präsenzversammlung

2. Rederecht

a) Funktionstest

b) Inhalt des Rederechts

3. Auskunftsrecht, Recht zu Nachfragen und Verhältnis zum Rederecht

a) Auskunftsrecht

b) Nachfragerecht

c) Tagesaktuelle Fragen

4. Anträge und Wahlvorschläge

5. Widerspruchsrecht

VI. Nach der virtuellen Hauptversammlung – Anfechtung

1. Grundsatz: Gleichlauf zum Anfechtungsrecht in der Präsenzversammlung

2. Neuer Anfechtungsausschlussgrund: Technische Störung

3. Anfechtungsberechtigung

VII. Fazit


I. Einleitung

Die Einführung virtueller Hauptversammlungen als Alternative zur Präsenzversammlung ist schon seit ca. 20 Jahren Gegenstand der rechtspolitischen Diskussion. Lange Zeit bestanden u.a. technische Bedenken für die Umsetzbarkeit gerade bei großen Publikumsgesellschaften. Die Corona-Pandemie führte 2020 durch Kontaktverbote zu dem Erfordernis, die Handlungsfähigkeit u.a. von Aktiengesellschaften auch ohne Präsenzversammlung sicherzustellen. So kam es im März 2020 zur Sondergesetzgebung des COVMG, die erstmals die Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre einführte. Angesichts der harten Eingriffe in die Rechte der Aktionäre waren diese Regelungen aber von Anfang an nur ein befristetes Provisorium, um den besonderen Umständen der Corona-Pandemie Rechnung zu tragen. Bei aller berechtigter Kritik an den Eingriffen in die Aktionärsrechte hat diese Sondergesetzgebung aber gezeigt, dass die Durchführung von Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre technisch reibungslos möglich ist, und zwar sowohl als reiner Stream als auch als interaktive virtuelle Versammlung. Die mehrfach verlängerte provisorische Regelung des COVMG ist Ende August ausgelaufen. An ihre Stelle ist nun eine dauerhafte Regelung im AktG getreten, womit die Koalitionsfraktionen ein Ziel ihres Koalitionsvertrages, die Schaffung einer dauerhaften Regelung virtueller Hauptversammlungen unter uneingeschränkter Wahrung der Aktionärsrechte, umgesetzt haben. Das Spannungsfeld zwischen der Wahrung der Aktionärsrechte einerseits und einer Attraktivität und Praktikabilität der virtuellen HV für Gesellschaften andererseits hat seit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs vom 9.2.2022 bis hin zur Beschlussempfehlung des BT-Rechtsausschuss vom 6.7.2022 zu einer lebhaften und kontroversen Diskussion im Schrifttum geführt. Dieser Aufsatz soll unter Berücksichtigung der Dynamik des Gesetzgebungsverfahrens und des sie begleitenden Schrifttums einen Überblick über die Neuregelungen zur virtuellen Hauptversammlung geben und diese einer kritischen Würdigung unterziehen.

II. Grundlagen

Die in § 118a Abs. 1 Satz 1 AktG legaldefinierte virtuelle HV zeichnet sich durch die fehlende physische Präsenz der Aktionäre aus und entspricht damit konzeptionell der virtuellen HV nach § 1 Abs. 2 Satz 1 COVMG. Sie steht künftig neben der Präsenz-HV und deren hybrider Form nach § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG. Sie ist für die AG, SE und KGaA eröffnet und unterscheidet bis auf einige veröffentlichungsbezogene Sonderregelungen nicht zwischen börsennotierten und nichtbörsennotierten AGs; sie ist auch nicht an eine Mindestgröße der Gesellschaft geknüpft.

Die Beschlussgegenstände virtueller HVs unterliegen weder gesetzlichen Beschränkungen, noch sind sie durch die Satzung beschränkbar. Die Streichung der Beschränkungsmöglichkeit im Gesetzgebungsverfahren soll die Gleichwertigkeit der virtuellen und Präsenz-HV betonen. Die Durchführung einer virtuellen HV bedarf grds. einer sie zulassenden Satzungsbestimmung (§ 118a Abs. 1 Satz 1 AktG), die auf maximal fünf Jahre befristet sein muss (§ 118a Abs. 3–5 AktG). Die Satzung kann die virtuelle Durchführung entweder direkt anordnen oder dem Vorstand die Entscheidungskompetenz zuweisen; die Zustimmung des Aufsichtsrats ist grds. nicht mehr erforderlich. Bis zum 31.8.2023 kann sich der Vorstand allerdings mit Zustimmung des Aufsichtsrats übergangsweise auch ohne Satzungsbestimmung für eine virtuelle HV entscheiden.

Die virtuelle HV hat gem. § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–4, 6–7 AktG folgende Grundvoraussetzungen: (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.10.2022 14:47
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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