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Mehrstimmrechte im Aktienrecht (Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893)

Der Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode sieht eine Wiedereinführung von Mehrstimmrechten für Aktiengesellschaften vor, nachdem diese mit dem KonTraG 1997 endgültig abgeschafft wurden. Fraglich ist, wie dies mit dem zentralen und grundsätzlich wohlfahrtsmaximierenden Grundsatz des Aktienrechts „One Share, One Vote“ zu vereinbaren ist. In der nicht börsennotierten Aktiengesellschaft bestehen größere privatautonome Gestaltungsspielräume, die ausnahmsweise eine Durchbrechung dieses Grundsatzes rechtfertigen können, so dass hier eine Wiedereinführung von Mehrstimmrechten im Ergebnis zu befürworten ist. Dem stehen für börsennotierte Gesellschaften allerdings drohende volkswirtschaftliche Effizienzverluste und erhebliche Gefahren für den Market for Corporate Control entgegen, weshalb eine Wiedereinführung von Mehrstimmrechten für diese abzulehnen ist.


I. Einführung

II. Historische Entwicklung von Mehrstimmrechten im Aktienrecht und Rechtsvergleich

III. Ökonomische Erwägungen

1. Die gesellschaftsrechtliche und schuldrechtliche Trennung von Herrschaft und Haftung

2. Allokation von Stimmrecht und Kapital als Vorteil?

3. Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsstand

IV. „One Share, One Vote“ als unüberwindlicher Grundsatz des Aktienrechts?

1. Die KGaA als Abweichungsmodell

2. Loslösung vom „One Share, One Vote“-Prinzip in der Aktiengesellschaft

3. Europarechtliche Schranken

V. Gesamtabwägung unter Differenzierung zwischen börsennotierter und nicht börsennotierter Aktiengesellschaft

1. Nicht börsennotierte Aktiengesellschaft

2. Börsennotierte Aktiengesellschaft

VI. Fazit


I. Einführung

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP zur 20. Legislaturperiode sieht die Wiedereinführung von Mehrstimmrechten im Aktienrecht vor. Es soll damit die Möglichkeit entstehen, Aktien verschiedener Stimmrechtsklassen zu schaffen, so dass z.B. Aktien der Klasse A jeweils fünf Stimmen, Aktien der Klasse B hingegen nur jeweils eine Stimme zustehen. Mehrstimmrechte sind im deutschen Aktienrecht bisher durch § 12 Abs. 2 AktG verboten, der den Grundsatz „One Share, One Vote“ kodifiziert. Eine Ausnahme besteht in § 12 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 139 Abs. 1 AktG nur für die Ausgabe von Vorzugsaktien, die gänzlich ohne Stimmrecht ausgestaltet sind.

In den meisten Gesellschaften gilt: Beteiligung gleich Stimmrecht. Dieses Konzept entspricht dem allgemeinen Prinzip des Zivilrechts sowie der Sozialen Marktwirtschaft, dass mit Gewinn- und Einflussmöglichkeiten regelmäßig auch die Übernahme eines entsprechenden wirtschaftlichen Residualrisikos einhergeht. Gleichwohl gilt dieser Maßstab nicht absolut: Für Personengesellschaften ist es Ausfluss des personalistischen Grundgedankens, dass den Gesellschaftern von ihren finanziellen Gesellschaftsbeiträgen abweichende Stimmrechte eingeräumt werden können. Dies ist aufgrund des dispositiven Pro-Kopf-Stimmrechts gem. § 709 Abs. 2 BGB sogar der gesetzliche Ausgangsfall. Eine Divergenz zwischen Kapitalbeteiligung und Stimmrecht ist auch im Gesellschaftsvertrag einer GmbH möglich und in der Praxis verbreitet. Gleiches gilt gem. § 43 Abs. 3 GenG auch für die satzungsmäßige Vereinbarung in einer Genossenschaft.

Mehrstimmrechte können seitens der Gründer dazu dienen, finanzielle Anteile an außenstehende Eigenkapitalinvestoren abzugeben, ohne aber die unternehmerische und strategische Kontrolle über das Unternehmen zu verlieren. Seitens der Investoren können Aktien niedrigerer Klassen insbesondere für Kleinaktionäre attraktiv sein, denen eine informierte Stimmrechtsausübung zu aufwendig erscheint – oder sie hieran schlicht kein Interesse haben – und die eine primär finanzielle Beteiligung am Erfolg der Gesellschaft anstreben. Das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz sieht vor, Mehrstimmrechte nun auch für börsennotierte Gesellschaften ermöglichen zu wollen.

Die Entkopplung von Stimmrecht und Kapitalbeteiligung steht dabei in der rechtlichen wie ökonomischen Bewertung im Konfliktfeld zwischen erweiterter Privatautonomie durch freiere Verteilung von Stimmrechten und dem Grundsatz des Gleichlaufs von wirtschaftlicher Entscheidungsmacht und Residualrisiko. Im Folgenden wird die Wiedereinführung von Mehrstimmrechten im Aktienrecht im Lichte dieses Spannungsverhältnisses analysiert und bewertet. Hierfür werden zunächst die historische Entwicklung von Mehrstimmrechten und ihrer Regulierung beleuchtet sowie eine rechtsvergleichende Betrachtung vorgenommen (dazu II). Sodann werden wirtschaftswissenschaftliche Aspekte der Debatte um Mehrstimmrechte beleuchtet (dazu III). Dabei wird aufgezeigt, dass „One Share, One Vote“ zwar ein zentraler, aber kein unüberwindbarer verbandsrechtlicher Grundsatz des Aktienrechts ist und einer Wiedereinführung per se nicht entgegensteht (dazu IV), sich aber unter Betrachtung volkswirtschaftlicher Gesichtspunkte und des Market for Corporate Control gravierende Hindernisse für die Einführung in börsennotierten Gesellschaften zeigen (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.09.2022 11:04
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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