Logo Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln

Aktuell in der ZIP

Der Referentenentwurf zur virtuellen Hauptversammlung 2.0 (Guntermann, ZIP 2022, 781)

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat am 9.2.2022 den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorgelegt. Der folgende Beitrag stellt die wesentlichen Regelungen des Entwurfs vor und unterzieht sie einer kritischen Würdigung.


I. Einleitung
II. COVMG und „Best Practice“ virtueller Hauptversammlungen

1. Virtuelle Hauptversammlung nach dem COVMG
2. Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung in der Praxis
III. Referentenentwurf für eine virtuelle Hauptversammlung 2.0
1. Satzungsvorbehalt
2. Taugliche Beschlussgegenstände
3. Anforderungen an die virtuelle Hauptversammlung
3.1 Antragsrecht in der Versammlung
3.1.1 Anträge, die keine Gegenanträge nach § 126 AktG sind
3.1.2 Gegenanträge nach § 126 AktG
3.2 Auskunftsrecht nach § 131 im Wege elektronischer Kommunikation
3.2.1 Einreichung bis vier Tage vor der Versammlung
3.2.2 Angemessene Beschränkung des Fragenumfangs
3.2.3 Nachfragerecht in der Versammlung
3.3 Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts
3.4 Einreichung von zu veröffentlichenden Stellungnahmen
3.5 Redemöglichkeit in der Hauptversammlung
4. Ort der Hauptversammlung
5. Teilnahmepflicht, § 118a Abs. 2 Satz 1 AktG‑E
5.1 Mitglieder der Verwaltung
5.2 Versammlungsleiter und Abschlussprüfer
6. Teilnehmerverzeichnis
7. Beschlussmängelfolgen
IV. Fazit und Ausblick


I. Einleitung

Die Hauptversammlung (HV) der Aktiengesellschaft ist seit jeher eine Präsenzveranstaltung. Mit Ausnahme der virtuellen Elemente, die seit dem ARUG in § 118 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AktG geregelt sind, kennt das AktG keine hauptversammlungsbezogenen Rechte ohne physische Präsenz. Zu einem jähen Bruch kam es Anfang 2020, als die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen innerhalb weniger Tage zum Inkrafttreten des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts‑, Genossenschafts‑, Vereins‑, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID‑19-Pandemie (COVMG) führten und Gesellschaften quasi über Nacht die Möglichkeit verschafften, ihre HV vollständig ins Virtuelle zu verlagern. Seitdem sind zwei Jahre vergangen, in denen der Anwendungszeitraum des COVMG mehrfach, zuletzt bis zum 31.8.2022, verlängert wurde. Man kann festhalten: Die virtuelle HV hat sich bewährt. Auch wenn viele Vorstände nicht müde werden zu betonen, dass sie kaum abwarten können, den Aktionären wieder in Präsenz begegnen zu können, scheint eine Rückkehr zu dem aus heutiger Perspektive geradezu antiquiert wirkenden status quo ante nicht wünschenswert.

Am 9.2.2022 legte das BMJ nun den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften (RefE, AktG‑E) vor. Der Entwurf spricht dem COVMG wegen der weitgehenden Einschränkung von Aktionärsrechten zutreffend die Vorbildfunktion ab. Gleichwohl legt er die Struktur des COVMG-HV-Modells zugrunde und ergänzt sie um verschiedene Elemente, die die „Best Practice“ der vergangenen zwei Jahre abbilden sollen. Ziel der Regelungen ist die völlige Gleichstellung mit der Präsenz-HV bei gleichzeitiger Entzerrung ihres Ablaufs. Dadurch soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Entscheidungsfindung vieler Aktionäre heute bereits im Vorfeld der Versammlung erfolge. Der Entwurf ist im Grundsatz gelungen, in Detailfragen jedoch nachzuschärfen.

II. COVMG und „Best Practice“ virtueller Hauptversammlungen
Zur Beurteilung des Entwurfs sei der Blick zunächst in gebotener Kürze zurückgerichtet.

1. Virtuelle Hauptversammlung nach dem COVMG
Nach dem COVMG kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats entscheiden, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre und ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird (§ 1 Abs. 2 Satz 1). In der konkreten Ausgestaltung ist der Vorstand (mit Zustimmung des Aufsichtsrats) frei. Es sind jedoch bestimmte Mindestanforderungen zu wahren (§ 1 Abs. 2 Satz 1): Die gesamte HV muss in Bild und Ton übertragen werden (Nr. 1). Die Aktionäre müssen ihr Stimmrecht im Wege elektronischer Kommunikation (Briefwahl oder elektronische Teilnahme) und durch Vollmachtserteilung ausüben können (Nr. 2). Ihnen steht ein Fragerecht zu (ursprünglich: bloße Fragemöglichkeit), wobei das „Wie“ der Fragenbeantwortung im pflichtgemäßen, freien Ermessen des Vorstands liegt (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1). Der Vorstand kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag (ursprünglich: zwei Tage) vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2). Ein „echtes“ Auskunftsrecht i.S.v. § 131 AktG steht den Aktionären dagegen nicht zu. Da sie vorbehaltlich einer elektronischen Teilnahme (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) nicht im Rechtssinne an der HV teilnehmen, muss ihnen auch kein Rede- und Antragsrecht in der Versammlung gewährt werden. Zulässig bleiben Gegenanträge und Wahlvorschläge, die gem. §§ 126, 127 AktG zugänglich zu machen sind. Sie gelten als in der Versammlung gestellt (§ 1 Abs. 2 Satz 3). Den Aktionären ist ein Widerspruchsrecht im Wege elektronischer Kommunikation einzuräumen, sofern sie ihr Stimmrecht ausgeübt haben (Nr. 4). Eine Verletzung der vorgenannten Regelungen kann nur im Wege der Beschlussanfechtung gerügt werden, wenn der Gesellschaft Vorsatz nachzuweisen ist (§ 1 Abs. 7).

2. Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung in der Praxis
In der Praxis wurde die virtuelle HV gut angenommen. Schnell bildeten sich Standards für ihre Ausgestaltung heraus. Insbesondere machen nahezu sämtliche Gesellschaften von der Möglichkeit Gebrauch, eine Vorabeinreichung der Aktionärsfragen zu verlangen. Im Gegenzug veröffentlichen viele Gesellschaften die Vorstandsrede vor der HV, um diesbezüglich Fragen zu ermöglichen. Ein überobligatorisches „Mehr“ an Interaktion mit den Aktionären wird dagegen nur zögerlich angeboten. In der ersten Saison nahmen nur einzelne Gesellschaften Stellungnahmen mit Bezug zur Tagesordnung entgegen und veröffentlichten diese vor der HV auf ihrer Internetseite. Erst in der zweiten Saison entwickelte sich die Möglichkeit zur Einreichung von Stellungnahmen zum Standard in großen Hauptversammlungen. Vorab eingereichte Videobotschaften werden nun teilweise auch während der HV abgespielt. Wenige Gesellschaften geben den Aktionären zudem die Möglichkeit, „in“ der HV Nachfragen zu Antworten des Vorstands zu stellen, wobei diese sich teilweise auf selbst gestellte Fragen beziehen müssen. Die Deutsche Bank AG räumte ihren Aktionären im vergangenen Jahr zusätzlich ein Live-Rederecht ein. Dazu öffnete sie 24 Stunden vor der HV ein zweistündiges Anmeldefenster. Der Gesamtzeitraum für die Redebeiträge wurde auf eine Stunde beschränkt. Außerdem behielt sich die Gesellschaft vor, bei der Auswahl der Redebeiträge Aktionärsvereinigungen und Fondsgesellschaften zu priorisieren. Weder die Nachfragemöglichkeit noch das Rederecht „in“ der HV haben sich bislang in der Praxis durchsetzen können. Eine elektronische Teilnahme ermöglichen die wenigsten. Ein überobligatorisches Antragsrecht „in“ der HV wird Briefwählern nicht eingeräumt.

III. Referentenentwurf für eine virtuelle Hauptversammlung 2.0
Der vorgelegte RefE vereinigt nun wesentliche Aspekte des COVMG und die diesbezügliche Best Practice durch verstreute Regelungen in den §§ 118 ff. AktG zu einer virtuellen HV 2.0.

1. Satzungsvorbehalt
§ 118a Abs. 1 Satz 1 AktG‑E führt die virtuelle HV nicht von Gesetzes wegen ein, sondern als Satzungsoption. Die Satzung muss entweder festlegen, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung erfolgt oder den Vorstand zu einer...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.05.2022 10:34
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite