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BGH v. 22.2.2022 - VI ZR 1175/20

Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung

Ob eine so schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, kann nur aufgrund der gesamten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Hierbei sind insbesondere die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, also das Ausmaß der Verbreitung der Veröffentlichung, die Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessen- oder Rufschädigung des Verletzten, ferner Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie der Grad seines Verschuldens zu berücksichtigen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger wurde durch seine Teilnahme an fünf Staffeln der Sendung "Traumfrau gesucht" des Fernsehsenders RTL II bekannt, ist PR-Manager und betreut Künstler. Er stellt seit geraumer Zeit sein Privat- und Berufsleben in den sozialen Medien dar und lässt seine Fans an sämtlichen Einzelheiten seines täglichen Lebens teilhaben. Der Beklagte zu 1) ist Redakteur bei der Beklagten zu 2), die für die Printausgabe der Bild-Zeitung und für die Internetseite www.bild.de verantwortlich ist.

Im April 2014 war ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers eröffnet worden. Die Eheleute L., die von seinen finanziellen Problemen wussten, gewährten ihm Darlehen von insgesamt mehreren tausend Euro. Das AG verurteilte den Kläger im Jahr 2016 zur Zahlung von 4.150 € an Frau L. Im Oktober 2018 rechnete er gegen die zu diesem Zeitpunkt noch offene restliche Rückzahlungsforderung mit einem Anspruch wegen Anwaltskosten auf. Für den 20.2.2019 war vor dem AG eine Hauptverhandlung in einem Strafverfahren gegen ihn wegen des Vorwurfs des gewerbsmäßigen Betrugs im Zusammenhang mit den Darlehen anberaumt. Das Strafverfahren wurde in der Hauptverhandlung nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.

Am 10. und 11.2.2019 veröffentlichte die Beklagte zu 2) in der Online- und Printausgabe der Bild-Zeitung zwei weitgehend inhaltsgleiche Artikel, als deren Verfasser u.a. der Beklagte zu 1) genannt ist. Die Artikel sind mit je zwei Fotos bebildert; das eine zeigt den Kläger mit einem Strauß Rosen, das andere zusammen mit den Eheleuten L. Die Artikel tragen die Überschrift "Betrugsanklage gegen D[…] S[…]" (online) und "Betrugs-Anklage gegen den Rosen-Kavalier" (print).

Der Beklagte zu 1) wies nach Veröffentlichung des Online-Artikels auf diesen mit der Bemerkung "Es war mir ein Bedürfnis" auf seiner Facebook-Seite hin. Außerdem sprach er auf der Facebook-Seite "BILD Mallorca" zwei ehemalige Klienten des Klägers auf das Strafverfahren an. Er gab wegen der Berichterstattungen eine strafbewehrte Unterlassungserklärung, die Beklagte zu 2) nach einer einstweiligen Unterlassungsverfügung eine Abschlusserklärung ab.

Der Kläger verlangte von den Beklagten als Gesamtschuldnern Zahlung einer angemessenen Geldentschädigung von mind. 20.000 €. Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Auch die Revision des Klägers vor dem BGH blieb erfolglos.

Gründe:
Das OLG ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung zusteht. Ein solcher Anspruch folgt nicht aus Art. 82 Abs. 1 DS-GVO. Aufgrund der Öffnungsklausel des Art. 85 Abs. 2 DS-GVO sind Datenverarbeitungen zu journalistischen Zwecken von den die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung betreffenden Vorschriften in Art. 6 und Art. 7 DS-GVO durch Regelungen der Länder ausgenommen worden. Für den Bereich der Telemedien, der die streitgegenständliche Internetberichterstattung umfasst, galt zur Zeit der Berichterstattung § 57 Abs. 1 Satz 4 RStV (jetzt gleichlautend § 23 Abs. 1 Satz 4 MStV). Für die Printberichterstattung existierten und existieren entsprechende Vorschriften der einzelnen Länder. Es liegt auf der Hand, dass ein Schadensersatzanspruch gem. § 82 Abs. 1 DS-GVO nicht auf die Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen durch eine journalistische Tätigkeit gestützt werden kann, wenn die Bestimmungen für die Tätigkeit gar nicht gelten.

Dem Kläger steht auch keine Geldentschädigung wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Wort- und Bildberichterstattungen nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 Abs. 1 GG und §§ 22, 23 KUG zu. Ohne Rechtsfehler ist das OLG davon ausgegangen, dass die Wortberichterstattungen in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers eingreifen. Die den Beschuldigten identifizierenden Berichterstattungen über ein laufendes Strafverfahren beeinträchtigen zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt machen und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifizieren.

An die Wahrheitspflicht dürfen im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an derartigen Äußerungen zu berücksichtigen. Diese Maßstäbe gelten im Grundsatz auch für die Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen. Im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung ist aber die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf "etwas hängen-bleibt". Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen.

Nach diesen Grundsätzen ist das OLG zu Recht davon ausgegangen, dass die angegriffenen Online- und Printberichterstattungen unzulässig waren, weil es an einer für die Zulässigkeit der Verdachtsberichterstattung erforderlichen ausreichenden Möglichkeit des Klägers zur Stellungnahme fehlte. Wie das OLG zu Recht ausgeführt hat, hätten die Beklagten zumindest auf die bereits nach eineinhalb Stunden eingegangene Bitte des Klägers um Fristverlängerung reagieren müssen. Allerdings begründet die schuldhafte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen Anspruch auf eine Geldentschädigung nur dann, wenn es sich um einen schwerwiegenden Eingriff handelt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend aufgefangen werden kann. Ob eine so schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, kann nur aufgrund der gesamten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Hierbei sind insbesondere die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, also das Ausmaß der Verbreitung der Veröffentlichung, die Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessen- oder Rufschädigung des Verletzten, ferner Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie der Grad seines Verschuldens zu berücksichtigen.

Nach diesen Grundsätzen hat das OLG aufgrund der Gesamtwürdigung der Umstände des Streitfalles eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers, die die Zahlung einer Geldentschädigung erforderte, weil es ohne eine solche an einem befriedigenden Ausgleich für die erfolgte Persönlichkeitsrechtsverletzung fehlen würde, zu Recht verneint. Das Strafverfahren ist zwar nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden; der Vorwurf des gewerbsmäßigen Betrugs ist damit aber nicht ausgeräumt. Das Verhalten des Beklagten zu 1) nach der Veröffentlichung war zweifellos unangemessen. Die in dem Verhalten zum Ausdruck gekommene, sachfremde Motivation hat sich auf die streitgegenständliche Berichterstattung jedoch nicht inhaltlich ausgewirkt. Der Vorwurf der Berichterstattungen war nicht gegen die Grundlagen der Persönlichkeit des Klägers gerichtet und nicht geeignet, ihn gesellschaftlich zu vernichten. Entgegen der Ansicht der Revision erfordert auch der Präventionsgedanke keine Geldentschädigung.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.04.2022 16:30
Quelle: BGH online

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