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Aktuell in der ZIP

Revitalisierung des Systems von Checks and Balances in der AG - Vorschläge zur Reform des Aufsichtsratsrechts (Heinen/Schilz/Kahle, ZIP 2022, 553)

Die organschaftliche Balance in der AG ist durch eine rasant voranschreitende faktische Entwicklung und den Einfluss heterogener Akteure, jeweils einhergehend mit einer insbesondere den Aufsichtsrat betreffenden gesetzgeberischen Zurückhaltung, verloren gegangen. Dieser Beitrag unterbreitet in struktureller wie kompetenzieller Hinsicht Vorschläge, die zur Realisierung einer umfassenden Reform anregen und zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen Aufsichtsrat und Vorstand führen sollen. Neben häufiger diskutierten Themen, wie der Zahl seiner Mitglieder oder der Ausgestaltung des Mandats als Nebenamt, widmet der Beitrag sich insbesondere einer Neuordnung der aufsichtsratsrechtlichen Aufgabenteilung, einem verstärkten Abbau von Informationsasymmetrien im Verhältnis zum Vorstand und einer Konturierung des kontrovers diskutierten Investorendialogs.


A. Einleitung
B. Bestandsaufnahme

I. Ökonomische Ausgangslage
II. Rechtsentwicklung de lege lata
III. Gewandeltes Rollenverständnis
IV. Spiegelbildliche Wechselwirkungen
C. Komposition und Kompetenz – Überlegungen de lege ferenda
I. Vorbemerkungen
II. Organkomposition
1. Organisatorische Annäherung an den Vorstand
2. Anzahl der Gremiumsmitglieder
3. Modifikation des Nebenamtscharakters
4. Integritäts- und Sachkundeanforderungen
5. Überlegungen zum Cooling-off
III. Organkompetenz
1. Eigenes Budgetrecht
2. Abbau von Informationsasymmetrien
3. Wahrnehmung des Investorendialogs
D. Schlusspunkt


A. Einleitung

Der Aufsichtsrat ist integraler Wesensbestandteil der AG, bildet er doch neben Vorstand und Hauptversammlung ihr drittes Konstituens. Hierin erschöpft sich seine Bedeutung für die Verfassung der AG indes nicht, sondern manifestiert sich in seinen spezifischen Kompetenzen mit der Überwachung des Vorstandshandelns im Zentrum (§ 111 Abs. 1 AktG). Gerade jene Überwachungspflicht ist durch eine neuerliche Ex- und Intensivierung geprägt. Insbesondere die stetig voranschreitende Globalisierung, Technisierung und Spezialisierung der Geschäftsmodelle zahlreicher Unternehmen lassen die bisherige Kontroll- und Überwachungsausübung aufgrund defizitärer Strukturen und unzureichender Organkompetenzen zunehmend zahnlos erscheinen. Das AktG hat hier nicht Schritt gehalten. Vielmehr hat der Gesetzgeber nur sehr behutsam Anpassungen vorgenommen und z.T. gar rechtlich wie faktisch anderen Akteuren aus dem In- und Ausland das Feld überlassen. Folgerichtig befindet sich das Recht des Aufsichtsrats in einer organkompetenziellen und -strukturellen Schieflage. Der dringende Reformbedarf wurde zuletzt wieder durch den Wirecard-Skandal schonungslos offengelegt. Der folgende Beitrag sucht durch Vorschläge zu einer Novellierung des Aufsichtsratsrechts besagte Schieflage anzugehen. Ziel ist die Revitalisierung des Systems von Checks and Balances in der AG.

B. Bestandsaufnahme

I. Ökonomische Ausgangslage

Ökonomisch erklärt sich die Bedeutung des Aufsichtsrats und zugleich auch sein Dilemma anhand der principal-agent-theory. Der Vorstand wird als Agent für den Prinzipal in Gestalt der Hauptversammlung tätig, wobei ersterer intrinsische Ziele verfolgt, die nur teilweise mit den Aktionärsinteressen konvergieren. Gleichwohl kann die erforderliche Überwachung des Vorstandshandelns aufgrund rationaler Apathie und mangelnder Information der Aktionäre nicht durch die Hauptversammlung selbst ausgeübt werden. Deshalb soll der Aufsichtsrat Überwacher sein, der jedoch im Verhältnis zum Vorstand seinerseits Prinzipal ist, so dass sich das Problem hier fortsetzt.

II. Rechtsentwicklung de lege lata
Mit dieser ökonomischen Ausganglage konfrontiert, sieht das AktG eine strenge Kompetenzverteilung zwischen Vorstand als Leitungs- und Geschäftsführungsorgan (§ 76 Abs. 1, § 77 AktG), Aufsichtsrat als Innen - und Überwachungsorgan (§ 111 Abs. 1 AktG) und Hauptversammlung als Willensbildungsorgan in den zentralen Angelegenheiten der Gesellschaft (§§ 118 f. AktG) vor. § 111 Abs. 1 AktG definiert – nicht abschließend – die Überwachung der Geschäftsführung als Kernzuständigkeit des Aufsichtsrats. Sein gegenwärtiges Rüstzeug spiegelt im Wesentlichen den Rechtsstand seit 1965 wider. Zwar brachte ein teilweise skandalgetriebener Regulierungsschub seit Ende der 1990er Jahre, mit dem zunehmend Corporate-Governance-Aspekte in den Fokus gerieten, eine deutliche Pflichtenmehrung mit sich; Organverfassung und Überwachungsinstrumente wurden jedoch nur punktuell angepasst. Zu nennen sind etwa die Auswahl und Kontrolle des Abschlussprüfers (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG), die Festlegung und Überwachung der Grundsätze angemessener Vorstandsvergütung (§§ 87 f. AktG) inkl. der Erstellung eines jährlichen Vergütungsberichts (§ 162 AktG), die Kontrolle der „Related Party Transactions“ (§§ 111a ff. AktG) oder die Förderung der organinternen Geschlechtergerechtigkeit (§ 111 Abs. 5 Satz 1 AktG).

Abermals skandalgetrieben, konkret als legislative Antwort auf den Wirecard-Skandal, ist in jüngster Vergangenheit mit Wirkung zum 1.7.2021 das mit großer Eile verabschiedete FISG in Kraft getreten. Im Fall Wirecard haben sich eine – z.T. von inkriminierten Motiven geleitete – „organisatorische Verantwortungslosigkeit“ gepaart mit einem „multiplen Aufsichtsversagen“ im größten Finanz- und Bilanzskandal der Nachkriegsgeschichte manifestiert. Das Überwachungsversagen in Bezug auf die inzwischen insolvente Wirecard AG mitsamt ihrer globalen Konzernstruktur betrifft nicht nur staatliche Stellen, wie die BaFin oder die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), sondern insbesondere auch das an seiner Spitze prominent besetzte unternehmens- bzw. konzerninterne Aufsichtsorgan. Das FISG zielt somit auch auf ein internes, organschaftliches Versagen – namentlich des Aufsichtsrats. Infolgedessen verpflichtet nun § 91 Abs. 3 AktG den Vorstand börsennotierter Gesellschaften zur Errichtung eines internen Kontrollsystems („IKS“) sowie eines entsprechenden Risikomanagementsystems („RMS“), deren Einrichtung und Tauglichkeit durch den Aufsichtsrat zu prüfen und überwachen ist. Um die Position des Aufsichtsrats und des durch ihn beauftragten Abschlussprüfers zu stärken, muss künftig nach § 100 Abs. 5 Halbs. 1 AktG bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (§ 316a Satz 2 HGB) mindestens „ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung und mindestens ein weiteres Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung verfügen.“ Das Alternativverhältnis zwischen Rechnungslegung und Abschlussprüfung ist somit entfallen und entsprechender Sachverstand darf sich nicht in einem Aufsichtsratsmitglied vereinen. Sachverstand setzt weiterhin weder die Eigenschaft als Steuerberater noch als Wirtschaftsprüfer voraus. Auch ehemalige Finanzvorstände, fachkundige Angestellte aus den Bereichen Rechnungswesen und Controlling, Analysten sowie langjährige Mitglieder in Prüfungsausschüssen oder Betriebsräten, die sich diese Fähigkeit im Zuge ihrer Tätigkeit als Aufsichtsrat durch Weiterbildung aneignen, erfüllen die Anforderungen. Als weitere zentrale Maßnahme verpflichtet § 107 Abs. 4 Satz 1 AktG Gesellschaften i.S.d. § 316a Satz 2 HGB zur Bildung eines Prüfungsausschusses. Hier wurden die Auskunftsrechte der einzelnen Ausschussmitglieder gestärkt, indem jedes von ihnen „über den Ausschussvorsitzenden unmittelbar bei den Leitern derjenigen Zentralbereiche der Gesellschaft, die in der Gesellschaft für die Aufgaben zuständig sind, die den Prüfungsausschuss nach Abs. 3 Satz 2 betreffen, Auskünfte“ einholen kann. § 107 Abs. 4 Satz 6 AktG sieht in diesem Fall vor, dass der Vorstand „unverzüglich zu unterrichten“ ist.

III. Gewandeltes Rollenverständnis
Losgelöst von der theoretischen und rechtlichen Ebene sind faktisch weitere Phänomene zu beobachten, derer sich das Recht bislang kaum angenommen hat. So sehen bspw. die Akteure des Kapitalmarkts den Aufsichtsrat, insb. seinen Vorsitzenden, zunehmend als zentralen Ansprechpartner für den Investorendialog. Auch dies gibt dem herrschenden Verständnis, wonach der Aufsichtsrat ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.03.2022 11:25
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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