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Aus der ZIP

Forderungserlass und Insolvenzplan - Zur Entmystifizierung „der Naturalobligation“ durch systematische und funktional-teleologische Auslegung (Dellit/Hamann, ZIP 2015, 308)

Gerade 20 Jahre ist es her, dass die InsO verkündet wurde. Mit ihr hielt der Insolvenzplan Einzug -- ein sehr modernes Sanierungsinstrument, das aber auf eine durchaus veritable Geschichte zurückblickt. Dieses Spannungsverhältnis hat Systembrüche entstehen lassen, die mit der überkommenen Dogmatik nicht mehr überzeugend zu überbrücken sind. Vor allem die aus dem römischen Recht entlehnte „Naturalobligation“ stiftet inzwischen mehr Verwirrung als Nutzen. Höchste Zeit für eine dogmatische Neujustierung.

I.  Problemaufriss
II.  Die historische Ausgangslage
III.  Begründungsansätze für „die Naturalobligation“

1.  Anstandspflichten
2.  Kondiktionssperre, § 254 Abs. 3 InsO
3.  Akzessorietätsaufhebung
4.  Wiederauflebensklauseln
5.  Sonstige Begründungsansätze
IV.  Die Entmystifizierung „der Naturalobligation“
1.  Naturalobligation als überflüssige Argumentationsfigur
2.  Das System der §§ 225, 227 und 254, 255 InsO
3.  Historische Bestätigung des systematischen Verständnisses
4.  Die spieltheoretische Funktion des § 254 Abs. 2 InsO
V.  Konsequenzen und Folgefragen
VI.  Zusammenfassung


I.  Problemaufriss

Das moderne deutsche Insolvenzrecht ermöglicht Unternehmen und Privatschuldnern sowohl eine optimierte leistungswirtschaftliche als auch eine finanzwirtschaftliche Restrukturierung -- durch einen Insolvenzplan (ggf. in Kombination mit Eigenverwaltung) oder Restschuldbefreiung. Da die Sanierung im Insolvenzverfahren mit der mindestens drohenden Zahlungsunfähigkeit ein fortgeschrittenes Krisenstadium voraussetzt, erfordert die nachhaltige Beseitigung der Krisenursachen häufig auch eine Verkürzung des Fremdkapitals. Dafür stellt das allgemeine Zivilrecht vor allem die Instrumente des Erlasses und des negativen Schuldanerkenntnisses bereit (§ 397 BGB). Nach § 397 Abs. 1 BGB bewirkt ein Erlass das „Erlöschen“ des „Schuldverhältnisses“, also der erlassenen Forderung.  „Erlöschen“ bedeutet deren „vollständigen, vorbehalts- wie bedingungslosen“ Wegfall, der im Nachhinein nicht mehr durch Verzicht oder Widerruf, sondern nur durch formwahrende vertragliche Neubegründung „revidiert“ werden kann.  Daher lässt der Forderungserlass sowohl die akzessorischen Sicherungsrechte unwiederbringlich untergehen,  als auch den Rechtsgrund für den Fortbestand fiduziarischer Sicherheiten und für spätere Erfüllungsleistungen entfallen; letztere können jeweils nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB kondiziert werden.

In einem Spannungsverhältnis dazu stehen die §§ 225, 227, 254, 255 InsO über die Beteiligung von Fremdkapitalgebern an der Unternehmenssanierung durch einen Insolvenzplan: Zwar „gelten“ nach § 225 Abs. 1 InsO die Forderungen nachrangiger Insolvenzgläubiger „als erlassen“ und wird der Schuldner von sonstigen Forderungen nach § 227 Abs. 1 InsO „befreit“, wenn „im Insolvenzplan nichts anderes bestimmt“ ist;  zudem sind ausdrückliche Erlassvereinbarungen im Insolvenzplan weithin üblich.  Andererseits soll der Insolvenzplan nach § 254 InsO weder die Rechte der Insolvenzgläubiger gegen Mitschuldner und Bürgen des Schuldners „berühren“ (Abs. 2) noch die Kondiktionsfestigkeit überplanmäßiger Befriedigung (Abs. 3); nach § 255 Abs. 1 InsO soll der Forderungserlass sogar „hinfällig“ werden, soweit der Schuldner „mit der Erfüllung des Plans erheblich in Rückstand gerät“. Fast identische Vorschriften gelten für die Restschuldbefreiung von Privatschuldnern nach §§ 286, 301 Abs. 2, Abs. 3, § 303 Abs. 1 InsO, die daher im Folgenden immer mitgedacht, aber nicht ausdrücklich untersucht wird.

Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen den allgemein zivilrechtlichen Rechtsfolgen eines Forderungserlasses und den Sondervorschriften der InsO will das Schrifttum fast einhellig dadurch auflösen, dass es die insolvenzbedingt erlassene Forderung nicht als erloschen ansieht; sie bestehe vielmehr „aus Sicht des Gläubigers als Naturalobligation bzw. aus Sicht des Schuldners als unvollkommene Verbindlichkeit“ fort, die „zwar erfüllt, nicht aber erzwungen werden kann“.  Während diese Metaphorik die Rechtslage anschaulich beschreiben mag, kann sie das Zusammenspiel der Normen nicht erklären -- und verzichtet dadurch letztlich auf stringente Systembildung.  Daher ist das Verhältnis der Erlassvorschriften in der InsO zu denen des allgemeinen Zivilrechts bis heute ungeklärt.

Der vorliegende Beitrag versucht eine Aufarbeitung und Systematisierung, die auch neuere Zweifelsfragen zu beantworten hilft.  Nach einer kurzen Darstellung der historischen Ausgangslage (II) wird zunächst untersucht, worauf die von der herrschenden Ansicht vertretene Lehre von der Naturalobligation gründet und warum sie die relevanten Probleme nicht lösen kann (III). Anschließend ist aufzuzeigen, wie eine systematische und funktional-teleologische Auslegung mithilfe der Spieltheorie zu überzeugenderen Ergebnissen und zur Entbehrlichkeit der Lehre von der Naturalobligation führt (IV). Schließlich werden Konsequenzen und Folgefragen dieser Lesart angedeutet (V) und die Erkenntnisse abschließend zusammengefasst (VI).

II.  Die historische Ausgangslage
Das herrschende Schrifttum zum insolvenzplanbedingten Forderungserlass stützt sich bis heute auf die „seit dem Jahre 1909 […] ständige Rechtsprechung“  und übersieht dabei noch mindestens ein weiteres halbes Jahrhundert Rechtsentwicklung. Denn schon die preußische KO von 1855 verfügte -- wohl erstmals  -- über eine Entsprechung zu den §§ 227, 254 InsO. Ob dem Gesetzgeber der InsO von 1994 bewusst war, dass einige ihrer Regelungen auf fast 150 Jahre Tradition zurückblicken, ist fraglich.  Jedenfalls wollte er gezielt neue Wege der Restrukturierung eröffnen und innovative ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.03.2021 16:27
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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